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Swissmem Industrietag 2015: Wieviel Europa braucht die Schweiz?

Der Einladung zum Industrietag der Swissmem folgten am 25.6.2015 rund 1‘200 Personen nach Bern. Swissmem vertritt 330’000 Beschäftigte und bestreitet mit Exporten im Wert von 66 Milliarden Franken knapp ein Drittel aller Güterausfuhren aus der Schweiz. Die Vorträge am diesjährigen Industrietag standen unter dem Motto „Wieviel Europa braucht die Schweiz?“.

Der Swissmem-Präsident Hans Hess erläuterte die
Bedeutung der bilateralen Verträge für die Schweizer MEM-Industrie.

„Die Schweiz hat es geschafft, in den vergangenen zwei Jahrhunderten vom Armenhaus Europas zu einer der wohlhabendsten Nationen der Welt zu werden. Das ist eine bemerkenswerte Leistung, auf die wir stolz sein können.

Dieser Erfolg und Wohlstand scheinen für viele Menschen in unserem Land mittlerweile selbstverständlich zu sein. Es ist deshalb wichtig, dass wir uns wieder vermehrt vor Augen zu führen, welches die Gründe für diesen Erfolg sind. Aus meiner Sicht sind es mehrere Faktoren: Es ist das schweizerische Unternehmertum, gepaart mit einer liberalen Wirtschaftsordnung. Es sind die leistungsbereiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, gepaart mit dem sozialen Verantwortungsbewusstsein der Patrons. Und es ist die unglaubliche Innovationskraft der Firmen, gepaart mit einem ausgeprägten Qualitätsbewusstsein der Belegschaften. Dank diesem Mix erbringen unsere Unternehmen Leistungen, die auf dem Weltmarkt einzigartige Erfolge erzielen. Diese Exporterfolge haben unser Land wohlhabend gemacht. Und davon profitiert auch die Binnenwirtschaft in hohem Masse.“

Hans Hess betont die enge Vernetzung mit den Nachbarländern

„Die unmittelbaren Nachbarregionen sind traditionell die mit Abstand wichtigsten Absatzmärkte für die Schweiz. Allein das Exportvolumen nach Baden-Württemberg ist gleich gross, wie jenes in die USA. Grosse Bedeutung haben auch die Lombardei, Bayern, Österreich und Frankreich. Von der Marktgrösse sind sie jeweils vergleichbar mit Japan oder China. Insgesamt gehen fast 60 Prozent der Exporte der Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie in die EU. Jeder zweite Arbeitsplatz der MEM-Branche in der Schweiz hängt vom Erfolg unserer Firmen im europäischen Markt ab. Das sind 165‘000 Arbeitsplätze.

Obwohl die Märkte in Amerika und Asien an Bedeutung gewinnen, wird Europa auch in absehbarer Zukunft der wichtigste Handelspartner und damit entscheidend für den Erfolg und Wohlstand in der Schweiz bleiben. Tatsache ist auch, dass schon heute sehr viel Europa in der Schweiz steckt. Rund 20 Prozent der Schweizer Wohnbevölkerung stammen aus den Staaten der EU. Damit stellen sich neue Fragen: Ist das nun zu viel, zu wenig oder gerade richtig? Und wie soll sich die Personenfreizügigkeit mit der EU weiterentwickeln? Das sind wichtige Anschlussfragen, die wir pragmatisch diskutieren müssen. Polemik hilft hier wenig.“

Die Aufgabe ist nicht einfach.

„Wir wissen zwar, dass es ohne Zuwanderung nicht geht. Wir haben aber auch vom Volk den Auftrag, diese Zuwanderung in einem vertretbaren Rahmen zu halten. Um innenpolitisch beides unter einen Hut zu bringen, müssen wir die Nebenwirkungen der Zuwanderung durch eine geschickte Politik mildern. Dies gilt insbesondere für die Engpässe im Bereich Wohnungsbau, auf der Strasse und in der Bahn. Wir müssen auch das einheimische Arbeitskräftepotential besser nutzen. Hier haben wir noch viele Verbesserungsmöglichkeiten und stehen als Unternehmer zusammen mit der Politik in der Mitverantwortung gegenüber der Gesellschaft.“

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Faktencheck: Die Schweiz in Europa
Prof. Dr. Monika Bütler vom SEW der Universität St. Gallen zeigte aus wissenschaftlicher Sicht, wie sich unsere Volkswirtschaft entwickelt hat. Sie begann im Jahr 0 und zeigte, dass die Schweiz bis circa im Jahr 1800 ein bitterarmes Land war. Erst vor rund 200 Jahren, mit Beginn der Industrialisierung, stiegen in der Schweiz das Bruttoinlandprodukt und die Lebenserwartung. Sie zeigte mit den aktuell verfügbaren wissenschaftlichen Studien, dass das gefühlte Unwohlsein über die momentan hohe Zuwanderung und die volkswirtschaftlichen Fakten nicht deckungsgleich sind. Im Gegenteil: unsere Standortvorteile sind nach wie vor sehr attraktiv.

Für interessierte Leser, die sich selber ein Bild machen möchten, hat es anstelle der wissenschaftlichen Folien hier zur Vertiefung einen Link zu einem kurzen Textbericht und hier den Link zur vollen Studie aus einer anderen Quelle.

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Herausforderungen der EU-Politik der Schweiz –
eine gemeinsame Verantwortung für die Zukunft.
Bundesrat Didier Burkhalter erläuterte zu Beginn seiner Ansprache, dass die Verträge mit der Schweiz in der Vergangenheit nie statisch waren, sondern immer dynamisch.

Die gegenwärtige Situation skizzierte er mit folgenden Leitfragen.

1. Wo stehen wir? Eine Partnerschaft für Wohlstand, Unabhängigkeit und Sicherheit.
Nebst der geografischen Lage teilen wir mit der EU gemeinsame kulturelle und geschichtliche Werte. Drei der vier Schweizer Landessprachen werden auch in den EU-Mitgliedstaaten gesprochen. Wir teilen eine Vorstellung der Freiheit. Wir teilen grundlegende Wertvorstellungen in Sachen Menschenrechte, Friedensförderung, nachhaltige Entwicklung oder Armutsbekämpfung. Aber auch das aktive Engagement der Schweiz im Europarat ist ein starker Ausdruck für gemeinsame Wertvorstellungen, welche die Schweiz mit allen europäischen Ländern teilt. Das verbindet; genauso wie auch die engen wirtschaftlichen Bande, die wir, die Sie, mit der EU und mit unseren Nachbarregionen pflegen.

Alle europäischen Aussenminister, die ich treffe, sind sich dabei einig: die Beziehung Schweiz-EU ist für beide Seiten wichtig – für die Schweiz und für die EU. Und alle sehen ein, dass es wünschenswert wäre, politische Lösungen für die offenen Fragen zu finden. So wie man es unter Nachbarn macht, die eine so intensive und lebendige Partnerschaft pflegen.

Aus Sicht des Bundesrats trägt die Partnerschaft mit der EU massgeblich zum Erreichen der drei verfassungsmässigen Ziele der Aussenpolitik der Schweiz bei: den Wohlstand, die Unabhängigkeit und die Sicherheit der Schweiz und ihrer Bevölkerung zu sichern.

Mit anderen Worten: Wohlstand, Unabhängigkeit und Sicherheit sind untrennbar mit dem bilateralen Weg verbunden.

Wohlstand
Der EU-Raum ist zentral für die Schweizer Exportwirtschaft – und umgekehrt ist die Schweiz auch eine wichtige Handelspartnerin der EU:

  • Rund ein Drittel der Exporte der Schweiz gehen in unsere Nachbarländer. Diese Handelsströme erhalten unsere Industrie am Leben und schaffen Arbeitsplätze für hunderttausende Personen.
  • Gut die Hälfte der Importe in die Schweiz stammt aus den vier grossen Nachbarländern. Importe, die für das Leben und die Lebensqualität in unserem Land nötig sind.
  • Über 40 Prozent des Aussenhandelsvolumens der Schweiz stammen aus den vier Nachbarländern. Diese Zahl alleine zeigt das riesige Netzwerk an alltäglichen, intensiven Beziehungen zwischen der Schweiz und ihren Nachbarn und vor allem mit den Grenzregionen. Der Austausch überwindet nationale Grenzen, und es entstehen Lebens- und Handelsräume. Aus den Grenzen werden – ich sage es auf Französisch – „des coutures plutôt que des coupures“ – also Nähte anstatt Risse. Allein das Volumen des Handels der Schweiz mit dem Bundesland Baden-Württemberg ist gleich hoch wie das Handelsvolumen der Schweiz mit den USA.
  • Die Schweiz trägt in gewaltigem Ausmasse zur Beschäftigung und zum Wohlstand in der EU bei – beinahe 300’000 Grenzgänger leben in der EU und finden in der Schweiz ein Einkommen. Es sind Männer und Frauen, die diese Beziehungen bereichern und die dazu beitragen, dass die Nachbarregionen gegenseitig von geteilten menschlichen und wirtschaftlichen Ressourcen profitieren. Natürlich bringt diese Nähe auch gewisse Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen und für die wir Lösungen finden müssen.
  • Ein Zehntel der europaweiten Personenfreizügigkeit entfällt auf die Schweiz. 1,3 Millionen Staatsbürger aus EU / EFTA-Ländern wohnen in der Schweiz. Das sind 1.3 Millionen Leben, Köpfe, Herzen und doppelt so viele Hände, die zum Erfolg der Schweiz beitragen: Nicht zuletzt dank ihnen ist sie ein Erfolgsmodell und eines der reichsten und wettbewerbsfähigsten Länder der Welt mit einem Gesundheitssystem von hoher Qualität, exzellenter Infrastruktur, sehr guten Schulen und einem der höchsten Lebensstandards.
  • Schliesslich erinnern wir die EU regelmässig daran, dass sie in diesem regen Austausch einen Handelsbilanzüberschuss erzielt – 2014 betrug er über 44 Milliarden Euro. Im Vergleich macht die EU im Handel mit China ein Defizit von 138 Milliarden Euro. Die Schweiz ist also eine zuverlässige Wirtschaftspartnerin der EU und folglich ist es nur normal, regelmässig die Qualität der Beziehungen mit ihr zu pflegen.

Alle diese Fakten und die vielfältigen menschlichen Kontakte im Alltag unterstreichen die Intensität der Beziehung und deren Wichtigkeit für beide Seiten.

2. Wohin gehen wir?
Werfen wir einen Blick in die Zukunft: wohin gehen wir? Der Austausch zwischen der Schweiz und der EU trägt zu unserem Wohlstand, zu unserer Unabhängigkeit und zu unserer Sicherheit bei. Damit dies auch in Zukunft so bleibt, ist die Wirtschaft, sind die Unternehmen auf Rechtssicherheit angewiesen. Gerade Rechtssicherheit ist ein wertvolles Gut in der heutigen Welt, das nicht selbstverständlich ist .

Die Politik wie auch die Wirtschaft sind hier in der Pflicht. Wir tragen eine gemeinsame Verantwortung.

Denn wenn die Lage für die Unternehmen zu unsicher ist, werden die Investitionen in der Schweiz ausbleiben, oder sie werden anderswo getätigt. Doch wir wollen auch in Zukunft hochwertige Schweizer Produkte und nicht Jobs oder Firmen exportieren!

Um Wohlstand, Unabhängigkeit und Sicherheit der Schweiz auch für die kommenden Generationen zu sichern, müssen die Rahmenbedingungen des bilateralen Wegs ständig neuen Gegebenheiten und Herausforderungen angepasst werden. Der Wille der Stimmbürger, die Zuwanderung besser zu kontrollieren, stellt eine solche Herausforderung dar.

Der Bundesrat verfolgt ein Ziel auf mehreren Ebenen: Die Migration soll eigenständig und besser gesteuert werden, das Freizügigkeitsabkommen mit der EU soll neu verhandelt werden und der bilaterale Weg soll mit einem institutionellen Abkommen erneuert werden. Deshalb will der Bundesrat eine Lösung erarbeiten, welche die Umsetzung der neuen Verfassungsbestimmungen zur Zuwanderung gewährleistet und den bilateralen Weg sichert.“

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Partnerland Schweiz: Die Sicht der EU
Dr. Vivian Reding, luxemburgische EU-Parlamentsabgeordnete, erläuterte den Anwesenden die vier Freiheiten der EU: Freier Personenverkehr, freier Warenverkehr, freier Dienstleistungsverkehr und freier Kapitalverkehr.

Sie erläuterte, dass ein Aufweichen des freien Personenverkehrs nicht im Interesse der EU sei, weil es ein Aufweichen eines der vier EU-Grundprinzipien wäre. Frau Dr. Reding machte aber auch klar, dass „freier Personenverkehr“ nicht freie Migration in ein anderes Sozialsystem in Europa bedeute, sondern „sich innerhalb der EU frei zu bewegen, sich niederzulassen und eine Arbeit anzunehmen“.

Hans Hess verdankte die engagierte Rede von Vivian Reding mit einem innovativen Schreibzeug der Firma Caran d’Ache, das in den kommenden Verhandlungen zwischen der EU und der Schweiz besonders geeignet ist zum Schreiben einer Schutzklausel, wie sie auch bereits mit anderen Ländern Anwendung findet.

Das Fazit aus dem Industrietag 2015
Die heutige Schweiz ist nicht mit „unterlassen“ entstanden, sondern mit „unternehmen“.

Zwei Museen liefern dazu praktischen Anschauungsunterricht. Das „Forum Schweizer Geschichte“ in Schwyz zeigt die Bedeutung guter Aussenbeziehungen für die Schweiz mit und zu den Nachbarn. Das Museum des Landes Glarus in Näfels zeigt im Textilteil die sehr eindrückliche Industriegeschichte des Kantons Glarus am Beispiel des „Tüechlidrucks“. Sie zeigt, welche Strapazen die Unternehmer und die Bevölkerung während der Industrialisierung auf sich genommen haben, damit entstehen konnte, was heute unsere Wirtschaft und unser Land ist. Besuchern aus dem In- und Ausland vermitteln beide Ausstellungen einen guten Einblick in die Schweizer Geschichte und fördern das Verständnis von Föderalismus.

#industrietag #swissmem